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Komplexe Systeme und schwarze Schwäne

Warum wir auf eine Krise selten vorbereitet sind und warum wir sie nur gemeinsam meistern können

Krisen sind äußerst tückische Lebensbegleiter. Wenn sie kommen, erzeugen sie zumeist eine schmerzhafte Handlungsunfähigkeit. Und das, obwohl doch gerade jetzt gute Entscheidungen gefragt wären. Der griechische Wortstamm legt das Dilemma offen. Denn Krísis bedeutet „Entscheidung“ und „entscheidende Wendung“. Im psychologischen Sinne entsteht eine Krise, wenn sich einzelne Menschen oder Gruppen gravierenden Hindernissen ausgeliefert sehen, die sie nicht mit ihren gewohnten Problemlösungsstrategien überwinden können. Das lässt sich auch übertragen auf gesellschaftliche Bereiche wie die Wirtschaft oder trifft auf ganze Staaten zu. Die größte Not entsteht, wenn eine Krise mit größtmöglichem Überraschungseffekt eintritt. Dann sprechen Experten von einem Schwarzer-Schwan-Effekt. Nassim Nicolas Taleb, Professor für Risikoanalyse, hatte den Begriff eines völlig unerwarteten Ereignisses im Zusammenhang mit massiv erschütterten Kapitalmärkten geprägt. Die Beschreibung vom schwarzen Schwan beruht auf der Kolonialgeschichte der Briten: Bevor sie Australien eroberten, glaubten sie noch, dass alle Schwäne weiß seien. In Australien wurden sie eines Besseren belehrt. Die „schwarzen Schwäne“ von heute können extreme Konsequenzen auslösen, wie politische Umstürze, Epidemien, ökologische Katastrophen und ökonomische Krisen. Dass sie wie ein heftiges Erdbeben daherkommen, basiert auf der enormen Komplexität unserer Systeme. Ob Wirtschaft, Gesellschaft, Staat, ob globale und digitale Vernetzung: Inzwischen geht es nicht mehr um leicht zu durchschauende Strukturen. Vielmehr beschäftigen uns hochgradig komplexe Systeme mit komplizierten Vernetzungen, sich gegenseitig beeinflussender Abhängigkeiten und „Nebenwirkungen“. Wie können wir Systeme und uns gegen Krisen sichern?

ROBUSTHEIT UND WEITBLICK

„Unabhängig von den Herausforderungen im Zusammenhang mit COVID-19 wird es in den nächsten Jahren immer wichtiger werden, ein tieferes Verständnis für die Resilienz unserer Systeme zu entwickeln und in resilienzsteigernde Maßnahmen zu investieren“, resümieren die interdisziplinären Forscher der Fraunhofer Gesellschaft in einer aktuellen Veröffentlichung. „Absehbar ist, dass verschiedene globale Veränderungsprozesse wie der Klimawandel, die Energie- und Mobilitätswende oder auch geo-politische Dynamiken unmittelbare und häufig disruptive Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft haben werden. Zugleich werden mit der Digitalisierung die Wirtschafts- und Produktionssysteme immer komplexer, was zu neuen Verwundbarkeiten gegenüber Schocks führen kann.“ Als Konsequenz daraus bedeute eine wirkungsvolle Widerstandsfähigkeit, „proaktiv zu agieren und aus Schocks zu lernen, sich kontinuierlich weiterzuentwickeln sowie, falls nötig, auch transformative Veränderungen erfolgreich zu meistern. Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist ein hohes Maß an Innovationsfähigkeit.“ All das klingt nach sehr viel Initiativleistung, folgt aber der inneren Logik, dass es in einer komplexen Welt nicht ausreicht, an irgendwelchen Schrauben zu drehen und sich dann nachhaltige Effekte zu erhoffen. Dementsprechend lässt sich nach aktuellem Erkenntnisstand Resilienz nicht durch isolierte Einzelmaßnahmen erreichen, sondern nur durch einen ganzheitlichen Ansatz, der unterschiedliche Perspektiven und Kompetenzen zusammenführt. Wir müssen also einen erheblichen Aufwand betreiben, um unsere Systeme auch in Krisenzeiten am Laufen zu halten. Das bedeutet (nicht nur in der Wirtschaft) neben dem Tagesgeschäft, permanente „Strategiearbeit“. Welche Rolle spielt in diesem komplexen Prozess das System Mensch?

DIE KRAFT DER SOZIALEN BINDUNGEN

Als Individuum ist der Mensch grundsätzlich so widerstandsfähig, wie er aufgrund seiner Erfahrung gelernt hat, mit kritischen Situationen und Krisen erfolgreich umzugehen. „Menschen passen sich rasch an“, sagt der Psychologe Rolf van Dick. Dabei spielt soziale Nähe eine besondere Rolle. „Sie ist in Krisenzeiten wichtiger denn je. Meine Forschungen und die von Kollegen haben in den vergangenen Jahren immer wieder gezeigt, dass es uns hilft, Krisen zu bewältigen und gesund zu bleiben, wenn wir uns in Gruppen zusammenschließen. Wir nennen das ‚social cure‘.“ Ohnehin haben Menschen im Lauf der Evolution gelernt, dass sie nur überleben können, wenn sie sich zu Gruppen zusammenschließen. In Krisenzeiten agieren Menschen aber nicht nur solidarisch, sondern sie fokussieren sich auch stärker auf ihre eigenen Bedürfnisse. Beide Tendenzen schließen sich aber nicht aus, meint Rolf van Dick. Man könne durchaus solidarisch handeln und im nächsten Moment wieder seinen eigenen Interessen folgen.

Was löst eine Krise bei Menschen auf psychologischer Ebene aus? Zunächst einmal Stress. „Heute wissen wir, dass Menschen eine Krise besser überstehen, wenn sie handlungsfähig bleiben und zur Verbesserung ihrer Lage beitragen können. Stresshormone geben uns allen die Voraussetzungen, hoch aktiv und wirksam zu handeln“, sagt die Psychologin Monika Puls-Rademacher. Sie betont, dass „Angst und Hilflosigkeit psychologisch – ähnlich wie ein Virus – ansteckend auf andere […] wirken können. Die gute Nachricht: Das können Zuversicht und Optimismus auch!“ Das gilt umso mehr, wenn eine Krise lange andauert.

Dann heißt es, nicht stumpf zurück in alte Muster fallen, sondern: wach bleiben! Was wir dabei dringend benötigen, ist Orientierung und Transparenz. „The only safe ship in a storm is leadership“, sagt die amerikanische Aktivistin Faye Wattleton. Tatsächlich gewinnen Führung und gute Kommunikation in Krisenzeiten enorm an Bedeutung, betont Puls-Rademacher: „Gefühle akzeptieren, Zuversicht vermitteln, eine Strategie entwickeln und planvoll vorgehen sind wichtige Elemente der Führung, auch wenn dabei improvisiert werden muss. Noch etwas kommt hinzu: Wurden wir einmal von einem katastrophalen Sturm erfasst und tauchen wieder auf, dann ist unsere erste Frage: ‚Wie beschädigt bin ich?‘ Wenn wir feststellen, dass die Situation zum Überleben ausreicht, folgt sofort die zweite wichtige Frage: ‚Wo sind die anderen und wie geht es ihnen?‘“ Wir haben offensichtlich ein tief verwurzeltes Wissen, dass wir Krisen am besten gemeinsam meistern. Nutzen wir es!

ANDERS DENKEN
Quellen der Innovation erschließen sich nicht nur in bisher völlig unbekannten Gewässern. Um festgefahrene Denkstrukturen aufzufrischen, lohnt auch der Blick in andere Kulturen und Zeiten. Eine Sharing-Kultur gab es beispielsweise auch im Mittelalter. Dort entstand in der Landwirtschaft ein ausgeklügeltes System des Tauschens und Teilens. Die Kultur der „Allmende“ ermöglichte es, Weide- und Ackerland, Güter und Ressourcen gemeinsam zu nutzen. Ein weiteres Beispiel findet sich in den frischen Denkrichtungen und der Neuorientierung der Renaissance. So ließen sich etwa Architekten in Rom oder Florenz vom Geist ihrer antiken Vorbilder inspirieren. Dort war es Anspruch der Erbauer, dass die Gebäude einer Stadt den Charakter ihrer Bewohner positiv prägen sollten. Es ging dabei auch um die ansprechende Atmosphäre im öffentlichen Raum. Ähnliche Herausforderungen sind heute in unseren Innenstädten ein hochaktuelles Thema.


Quellen:
Fraunhofer-Gesellschaft zur Förderung der angewandten Forschung e. V.: Resilienz von Organisationen, Infrastrukturen und anderen komplexen Systemen, München 2021; Zeit Wissen 5/2021: Neue Ehrfurcht vor altem Wissen; Friedrich Ebert Stiftung: https://www.fes.de/akademie-management-und-politik/veroeffentlichungen/ mup-interviews/ solidaritaet-in-zeiten-der-krise


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