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„New Work needs Inner Work“

Interview mit Dr. Joana Breidenbach

Joana Breidenbach ist Kulturanthropologin, Sozialunternehmerin, Autorin und Mitbegründerin von Deutschlands größter Spendenplattform betterplace. Gemeinsam mit ihrem Team experimentiert sie im Think Tank betterplace lab und beschäftigt sich dabei auch mit der Frage, wie sich die Digitalisierung und ihre Innovationen für das Gemeinwohl einsetzen lassen. Zusammen mit der Organisationsentwicklerin Bettina Rollow verfasste sie das Buch „New Work needs Inner Work“.

Ihr Team forscht zum Thema Mensch und Digitalisierung. Welche wesentlichen Erkenntnisse haben Sie gewonnen?

» Uns war schnell klar, dass Digitalisierung nicht nur dazu dienen kann, über E-Commerce noch mehr zu shoppen und noch intensiver in SocialMedia-Bubbles abzutauchen. Schließlich können digitale Techniken auch genutzt werden, um uns in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Soziales und Ökologie weiterzubringen. Später beschäftigte uns die Erkenntnis, dass Digitalisierung weit mehr ist als die Nutzung von neuen Tools, Plattformen und Apps. Vielmehr haben wir es mit einer fundamentalen Transformation zu tun und reden inzwischen über digitale Prinzipien, die alles verändern. Die Welt wird dezentraler, es gibt neue Chancen zu teilen und vielfältige Möglichkeiten der Kollaboration. Gleichzeitig laufen Veränderungsprozesses immer schneller und die Unsicherheit nimmt zu. Diese spannende Meta-Transformation betrifft inzwischen alle Bereiche des Lebens. Also dürfen wir uns nicht mehr nur darauf fokussieren, dass Menschen die neue Technik beherrschen. Wir müssen auch über Werte diskutieren: Was bedeutet es unter digitalen Bedingungen, Mensch zu sein und wie können wir uns in einer sich ständig verändernden Welt überhaupt noch orientieren? Unsere Schlussfolgerung: Wir sollten dringend an unseren inneren Kompetenzen arbeiten und uns auf den Weg vom Tool zum Menschen machen.

Sie sagen, die meisten Ansätze, die sich mit New Work beschäftigen, sind zum Scheitern verurteilt. Warum?

» Weil sie sich fast ausschließlich mit der äußeren Dimension der Arbeit beschäftigen. Wenn ein Unternehmen New-Work-Prozesse einführen will, dann fokussieren sich die Akteure zumeist auf die Veränderungen, die sich vorwiegend auf Prozesse, Strukturen und Regeln beziehen. Das mag zu einer etwas anderen Hierarchie, zu aufgelockerten Rollenbeschreibungen und Ähnlichem führen. Wo aber bleibt die innere Dimension? Bei derartigen Veränderungsprozessen müssen wir zwangsläufig auch persönlichkeitsbezogene Aspekte stärken. Dabei geht es um Haltung, Kultur, Kommunikation, die Art und Weise, wie Menschen ihre Identität entwickeln – wie sie die Welt sehen, deuten und verstehen. Fakt ist: Jede Organisation hat sowohl innere wie auch äußere Aspekte und ein dazu passendes Mindset. Leider wird die innere Perspektive meistens vernachlässigt, weil diese als rein psychologisches Soft Skill abgetan wird. Diese Zeiten sollten aber vorbei sein. Zumal bei New-Work-Ansätzen alte Strukturen verschwinden und damit Mitarbeiter Sicherheit und Orientierung verlieren.

Digitalisierung und Menschlichkeit: Funktioniert das zusammen?

» Auf jeden Fall! Einerseits sehen wir, dass die Menschen in der heutigen Arbeitswelt selten ihr gesamtes Potenzial nutzen dürfen und häufig unter prekären Umständen ihren Job verrichten. Gleichzeitig birgt die Digitalisierung unglaubliche Chancen auf die Möglichkeit, so zu arbeiten und zu leben, wie es der angestrebten Lebensform von Menschen gerecht wird. Ferner ist inzwischen über die neuen Technologien vieles kostenlos zugänglich und die Eingangsbarrieren zur Teilhabe sind grundsätzlich gesunken. Das heißt aber leider noch lange nicht, dass alle die gleichen Chancen haben.

Dr. Joana Breidenbach, lächelnd an eine Tischkante gelehnt.
© Marc Beckmann

Und dann?

» Dann sollten wir unbedingt alternative Möglichkeiten der Orientierung schaffen. Wenn vertraute Ankerpunkte wegfallen, bringen uns neue Methoden, bunte Pinnwände und der Obstkorb auf dem Schreibtisch nicht wirklich weiter. Wir wissen aus eigener Erfahrung, wie schwer es selbst gut aus – gebildeten Menschen fällt, klarzukommen, wenn gewohnte Leitplanken fehlen. Sind die äußeren Bedingungen unsicher, weil sich ständig etwas verändert, dann müssen wir uns wieder stärker an uns selbst orientieren, um dadurch Sicherheit gewinnen. Das bedeutet zunächst einmal, sich besser zu reflektieren, seine Bedürfnisse zu verstehen, klarer mit sich zu sein. Mitarbeiter sollten sich also in diesen Feldern weiterentwickeln dürfen und müssen dabei unterstützt werden. Denn nur so können sie ihre Potenziale am besten entfalten.

Wie kann so ein Inner-Work-Prozess gelingen?

New Work Expertin Dr. Joana Breidenbach sitzt gestikuliernd in einem Meeting
© Nils Hasenau

» Ein Ziel von New Work ist es, dass dort Entscheidungen getroffen werden sollten, wo das meiste Wissen und die größte Kompetenz liegt. Also weg von der traditionellen Hierarchie-Pyramide, hin zu einer verteilten Führung, bei der Mitarbeiter ermächtigt werden, weitreichende Entscheidungen zu treffen. Wir hören aber von Chefs, dass viele Mitarbeiter gar keine Entscheidungen treffen wollen – und wenn, dann keine mutigen. Das überrascht nicht. Denn um mutige, verantwortungsbewusste Entscheidungen treffen zu können, benötigen Mitarbeiter ein hohes Maß an Selbstbewusstsein. Da – mit sie aus sich heraus entscheidungsfähig sind – unabhängig von der Meinung anderer. Natürlich braucht es das nötige Wissen, aber eben auch aus – geprägte kognitive Skills. Entscheidungsfreudige Menschen wissen, worauf es wirklich ankommt, und können sich auf ihr Bauchgefühl verlassen. Das ist ein nicht unwesentlicher Aspekt. Denn Untersuchungen des Max-Planck-Instituts belegen, das zwei Drittel aller Wirtschaftsentscheidungen in der Führungsetage reine Bauchentscheidungen sind. Auch wenn sie im Nachhinein rational gerechtfertigt werden.

Was bedeutet das für die nächsten Praxisschritte?

» Mitarbeiter müssen die Möglichkeit erhalten, das nötige Selbstvertrauen zu entwickeln, um unternehmerisch zu denken und im Zweifel auch einmal eine Entscheidung zu treffen, wie sie sonst kein anderer im Unternehmen fällen würde. Dafür braucht es reife Menschen und einen zeitintensiven Prozess. In der Regel haben die meisten diese Fähigkeit nicht ausbilden können. Also müssen sie diese Kompetenz neu entwickeln. Wenn feste und gewohnte Rahmenbedingungen wegfallen und wir alle agiler reagieren müssen, dann sollten wir zunächst einmal intensiver kommunizieren – viel mehr, viel situativer, viel klarer. Auch dabei sind wieder innere Kompetenzen gefragt. Dazu zählen Empathie, Aufmerksamkeit, Urteilskraft sowie die Fähigkeit, mit Konflikten umgehen zu können. Ferner gilt es, Spannungen aushalten zu können. Denn es gibt ja nicht nur die eigene Wahrheit, sondern auch die der Kollegen. Auch das ist ein InnerWork-Prozess: gegensätzliche Emotionen auszuhalten und dann einen Lösungsraum zu finden.

Dieser Prozess scheint kein einfacher zu sein, was wäre hilfreich?

» Einerseits kann man natürlich die Entwicklung von inneren Kompetenzen nicht verordnen. Andererseits möchten die wenigsten Menschen stehen bleiben und es gibt einen natürlichen Antrieb, sich zu verändern. Zumal den meisten bewusst ist, dass wir heute anders als bisher auf die aktuellen Herausforderungen reagieren müssen. Deshalb sollten Unternehmen ihre Mitarbeiter einladen, diesen inneren Veränderungsprozess anzustoßen. Ich möchte aber ausdrücklich betonen, dass unser Ansatz sich nicht als Selbstzweck allein auf die eigene Persönlichkeitsbildung bezieht. Vielmehr ist das erst die Voraussetzung, um mit anderen sinnvoller zu kooperieren und gemeinsame Unternehmensziele besser zu erreichen. Alles, was am Arbeitsplatz stattfindet, sollte auf dieses Ziel einzahlen. Wir plädieren also nicht für einen gefühligen Therapieclub, aber sollten uns über Inner Work in Bewegung setzen!

Portrait von Dr. Joana Breidenbach vor unscharfen Hintergrund
© Nils Hasenau

Wie sieht das konkret aus?

» Wir haben in unserem Team gelernt, dass vieles in Bewegung kommt, wenn es dafür entsprechende Räume und Möglichkeiten gibt. Stark inspiriert hat uns dabei das Buch „Reinventing Organizations“ von Frederic Laloux über die Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. Demnach sind Mitarbeiter, die sich ganzheitlich einbringen, für Unternehmen besonders wertvoll. Die Realität ist aber eine andere. Die meisten Mitarbeiter verbrauchen unglaublich viel Energie, um bestimmte Aspekte ihrer Persönlichkeit zu verbergen. So machen sie quasi nebenbei einen zweiten, unbezahlten Job. Wir haben in unserem Team gute Erfahrungen gemacht, wenn Menschen die Möglichkeit haben, herauszufinden, was sie wirklich antreibt und was sie brauchen, um noch kreativer zu sein. Erkenntnisse wie diese sollten sukzessive in das Arbeitsumfeld einfließen. Darüber hinaus kann in Workshops geübt werden, wie man aufmerksamer wahrnimmt und besser zuhört. Denn es macht bekanntermaßen einen großen Unterschied, ob man etwas nur rational erfasst oder weitere Sinneskanäle öffnet, um noch mehr zu verstehen. Ebenfalls trainieren lässt sich die Fähigkeit zu reflektieren und Dinge klar anzusprechen, die einen beschäftigen oder die man im Umfeld wahrnimmt. Wenn Erkenntnisse wie diese in die Meetingkultur integriert werden, verbessern sich zwangsläufig auch die Zusammenarbeit in und die Ergebnisse von Teams.

Sie beschäftigen sich mit der „inneren“ Innovation. Was heißt das genau?

» Oft entstehen Innovationen, indem bestehende Elemente nur neu zusammengesetzt werden. Aus der Systemtheorie kennen wir dagegen auch den Begriff der Emergenz, der das selbst organisierte Entstehen von geordneten aus ungeordneten Strukturen thematisiert. Wenn sich also mehr aus einer komplexen Gemengelage heraus entwickelt als die Summe ihrer bereits bestehenden Teile. Wir haben uns mit dieser Form der Innovation beschäftigt und gelernt, dass uns eine ausschließlich intellektuelle Herangehensweise nicht weiterhilft, sondern dass auch eine unstrukturierte Umgebung förderlich sein kann. Die Formel lautet: Wenn wir unsere Innovationskraft stärken wollen, dann müssen wir unsere Intuitionskraft stärken und lernen, uns selbst zu vertrauen. Interessant ist, dass sich die Kraft zur Innovation auch aus einer gewissen Erfahrung der Leere speisen kann – wenn einem quasi in der Stille ein inneres Licht aufgeht. Auch dafür braucht es in einem Arbeitsumfeld entsprechende Räume. Übrigens ist es in meinem Verständnis keine innovative Höchstleistung, wenn ein vermeintlich cooles Produkt nur eine weitere Nische öffnet und noch mehr Scheinbedürfnisse befriedigt. Ist dagegen nicht das besonders fortschrittlich, was dazu beiträgt, unsere Realität sichtbarer zu machen und möglichst viele Menschen zu erreichen, auch die sozial entkoppelten? Dafür brauchen wir im Arbeitsumfeld Menschen, die sich darin üben, vielfältige Perspektiven wahrzunehmen und Brücken bauen können. Ich denke, das bringt Unternehmen wie auch unsere Gesellschaft insgesamt wirklich weiter.

Welche Tipps haben Sie gerade auch für kleinere Unternehmen?

Beginnen Sie mit einer ehrlichen Standortanalyse: Wie leben wir im Tagesgeschäft tatsächlich unsere Werte, die bei uns auf der Firmenwebsite stehen? Was bedeutet denn zum Beispiel Transparenz für uns ganz konkret? Über diese und ähnlichen Fragen sollte ein präziser, offener Dialog zum Stand der Dinge geführt werden. Und überlegen Sie sich, wie Sie Ihre Mitarbeiter einladen könnten, sich lebendiger und authentischer ins Unternehmen einzubringen. Probieren Sie zum Beispiel durch ein kurzes Check-In am Anfang eines Meetings auch zwischenmenschliche, vermeintliche private Aspekte einfließen zu lassen. Man kann darüber hinaus die Fehlerkultur des Unternehmens hinterfragen: Was ging daneben, was schaffe ich gerade nicht und wo habe ich Schwierigkeiten? Explizit werden Mitarbeiter auf diese Weise eingeladen, ehrlicher zu reflektieren und sich im Zweifel Unterstützung zu holen. In diesem Prozess ist es wichtig, auch einmal auszuhalten, dass etwas nicht funktioniert!
Ganz gleich, womit man beginnt: All das braucht Zeit und Räume. Ein bisschen Chance-Management und ein paar Workshops reichen leider nicht. Gerade die inneren Prozesse sind langwieriger Natur. Niemand verändert sich von heute auf morgen. Schließlich durchlaufen wir alle derzeit eine riesige historische Transformation. Das können wir auch ernst nehmen. Also Schritt für Schritt. Schauen Sie, was zum Unternehmen passt und bleiben Sie offen. Besonders für Ihre Mitarbeiter: Was liegt ihnen am Herzen, was brauchen sie, was interessiert sie? Insgesamt gibt es viele Möglichkeiten und Formate, mit denen man langsam starten kann, ohne die gesamte Organisation auf den Kopf zu stellen.