
Eingestaubtes Handwerk?
Zeit für einen Perspektivwechsel
Die Handwerkskammer Braunschweig-Lüneburg-Stade vertritt die Interessen der Handwerksbetriebe, Auszubildenden und angestellten Handwerker der Region. Matthias Steffen, der 2024 als Nachfolger von Eckhard Sudmeyer die Hauptgeschäftsführung übernommen hat, entwickelt die verschiedenen Geschäftsbereiche der Handwerkskammer seit 25 Jahren weiter. Was sich verändert hat, wie er die Zukunft einschätzt und was sich hinter dem oftmals noch antiquarischen Image handwerklicher Berufe verbirgt, berichtet er im Interview.
Herr Steffen, welche Relevanz hat die Handwerksbranche in Deutschland und in der Region?
» Berufe im Handwerk sind systemrelevant. Wer sich für eine duale Ausbildung entscheidet, kann in vielen Berufen arbeiten und die Zukunft aktiv mitgestalten. Auch für zukunftsweisende Bereiche wie Klimaschutz und Digitalisierung spielt die Branche eine wesentliche Rolle – ohne Handwerk gäbe es keine Transformation, keine erneuerbaren Energien, kein Smart Home. In Deutschland sind sieben Millionen Beschäftigte im Handwerk tätig, also jede achte Person, dennoch wird die Branche unterschätzt – in unserer bundesweiten Imagekampagne wenden wir uns deshalb unter dem Slogan „Die Wirtschaftsmacht. Von Nebenan“ an die Öffentlichkeit. In der Region nehmen viele Menschen, vor allem Volkswagen, wahr, jedoch funktioniert auch dieser Sektor ohne Handwerk nicht. Andersherum wird das Handwerk von der Situation des Herstellers beeinflusst.
Die Nachfrage ist groß, das Angebot vor allem aufgrund von Personalmangel vergleichsweise klein. Was müsste sich ändern, um die Arbeit im Handwerk attraktiver zu gestalten?
» Ich halte das Handwerk bereits für hochattraktiv, die öffentliche Wahrnehmung hingegen ist leider oft mit alten Klischees von einem „körperlich anstrengenden“ Beruf, in dem man sich für eine geringe Vergütung die Hände schmutzig macht, verbunden. Dass dieses überholte Bild bestehen bleibt, liegt am Image von Ausbildungsberufen im Vergleich zum akademischen Werdegang, das auch in Schulen vermittelt wird. Vielen ist gar nicht bewusst, dass ein Meistertitel offiziell gleichwertig zu einem Bachelor-Abschluss anerkannt ist und der Betriebswirt des Handwerks den gleichen Stellenwert wie ein Master-Abschluss hat. Dennoch wird die akademische Ausbildung politisch stärker gefördert, was einen Einfluss auf die Entscheidung des Bildungsweges hat. Es gibt generell zu wenig Projekte, die die berufliche Orientierung junger Menschen in alle Richtungen fokussieren. Dafür macht sich die Handwerkskammer stark und organisiert Projekte wie Ausbildungsbotschafter und Auslandspraktika für Auszubildende.
Wie haben sich handwerkliche Berufe weiterentwickelt?
» Die Innovation, die häufig mit akademischen Berufen verbunden wird, findet vor allem in Ausbildungsberufen statt. Die gesamte Branche hat sich durch digitale Verfahren und neue Techniken weiterentwickelt, die Arbeit ist eine andere geworden. Ein Baumaschinenmechatroniker beispielsweise arbeitet heute nur noch einen Bruchteil seiner Arbeitszeit körperlich, da er sehr viel Zeit mit Diagnosetechniken verbringt. In einem Projekt in Kooperation mit Finnland, Estland, Portugal und den Niederlanden wurden beispielsweise VR-Brillen getestet, die die Fehlererkennung vereinfachen sollen. Natürlich spielt das traditionelle Handwerk auch immer eine Rolle, die Herausforderung und Chance zugleich besteht darin, beides in Einklang zu bringen. Die Betriebe haben außerdem die Aufgabe, sich bezüglich der Rahmenbedingungen wie Flexibilität und Vergütung kontinuierlich anzupassen.
Warum sollten sich junge Menschen für einen Job im Handwerk entscheiden?
» Nicht jeder ist für ein Studium gemacht. Es gibt durchaus Menschen, die sich in praktischen Berufen besser aufgehoben fühlen. Eine Studie der IKK besagt, dass Beschäftigte im Handwerk zufriedener mit ihrer Arbeit sind als andere. Einer der Gründe dafür ist, dass sie selbst etwas mit ihren Händen produzieren und am Ende des Tages etwas erschaffen haben. Außerdem können sie gutes Geld verdienen und haben die Möglichkeit, zum Meister oder Betriebswirt aufzusteigen. Viele legen Wert auf den direkten Austausch mit Menschen und haben gleichzeitig den Vorteil, einer zukunftsfähigen Arbeit nachzugehen, die durch künstliche Intelligenz zwar unterstützt, aber nicht komplett ersetzt werden kann.
In den nächsten Jahren werden mindestens 125.000 Familienbetriebe im Handwerk Nachfolgende suchen. Wie stufen Sie die Zukunft der Betriebe ein?
» Das hängt davon ab, wie früh sich ein Betrieb um die Nachfolge kümmert. Es gilt herauszufinden, ob sich das Geschäft wirtschaftlich rentiert, wie die Übergabe realisiert werden kann, ob von einem Nachfolger, einem Mitarbeiter, einem anderen Unternehmen oder einem jungen Meister. Wichtig ist, sich so früh wie möglich mit diesem Thema zu beschäftigen. Wir stehen dabei beratend zur Seite und versuchen natürlich, die Zukunft so vieler Firmen wie möglich zu sichern, damit die Versorgung der Region gewährleistet wird. Aber natürlich wird es auch immer Betriebe geben, die nicht übernahmefähig sein werden.
Welche Erfolge konnte die Handwerkskammer in der Region erzielen, welche besonderen Projekte wurden bislang umgesetzt?
» Die Region gilt deutschlandweit als Vorreiter, vor allem im Bereich Bildung und Forschung. Wir haben den Bedarf früh erkannt und angefangen, unsere Bildungsstätten zu modernisieren – diese kontinuierliche Investition über Jahre hinweg zahlt sich nun aus und wir sind bereit, junge Menschen weiterhin mit modernen Technologiezentren zu begeistern. Eines davon ist beispielsweise das neue Kompetenzzentrum für Mobilität und Landtechnik in Königslutter, das wir gemeinsam mit regionalen Akteuren umsetzen werden.
Sie haben angekündigt, die „verantwortungsvolle Geschäftsführung ihres Vorgängers fortsetzen zu wollen und sich nachhaltig für die Interessen der Handwerker und Handwerksunternehmen im Kammerbezirk einzusetzen“ – Welche Interessen und Maßnahmen sollen konkret umgesetzt werden?
» Die Interessen sind nach innen und nach außen gerichtet. Innerhalb der Institution sorgen wir dafür, dass alle haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter gut zusammenarbeiten. Wir bündeln die Interessen der Handwerksunternehmen und tragen sie an die Politik heran, damit sich die Relevanz der Branche in der Außenwahrnehmung und im Bewusstsein der Gesellschaft verankert.
Am 5. September findet der erste Wolfsburger Handwerks-Cup im Drachenboot statt, initiiert durch die Handwerkskammer und die WMG. Was versprechen Sie sich von dieser Veranstaltung?
» Einen Tag vor dem großen Drachenboot-Cup mit über 3.000 Menschen dürfen unsere Innungen die Regattastrecke ausprobieren. Wir freuen uns sehr dabei zu sein – das wird eine ganz neue Erfahrung für alle Beteiligten. Es ist zudem ein innovativer Weg, den Stellenwert des Handwerks in die Öffentlichkeit zu tragen.
Titelfoto: © Fotostudio Sascha Gramann