WAS IST MUT?
„Ich hänge an meinen Fingerspitzen ohne Seil und Absicherung in einer senkrechten Wand. Unter mir der Abgrund, in mir keimt Angst auf. Doch sie versetzt mich nicht in Panik. Im Gegenteil: Sie ermöglicht Konzentration, denn jeder Griff muss sitzen – die Angst ist nicht meine Schwäche, die Angst ist mein bester Freund. Sie treibt uns an, schützt, warnt, bremst und leitet uns.“
Alexander Huber, Extremkletterer und Physiker
Mut zählt zu den Grundtugenden, quer durch alle kulturellen Traditionen. Anfangs galt Mut vor allem als männliche Tugend und tauchte oft im Zusammenhang mit Krieg auf. Meist verbunden mit der Aufforderung: Seid mutig und folgt mir in die Schlacht. Dieser Ansatz findet sich bis heute in gefährlichen Mutproben wieder – oft in Form von Hierarchie-Spielen und Unterwerfungstests. Möglicherweise ist das „Neinsagen“ eher schon die mutigere Variante. Was aber macht Mut aus? Bereits Aristoteles erkannte die grundlegenden Bestandteile: ein Risiko, eine angemessene Handlung und ein Ziel. „Mutig sei, wer sich den richtigen Dingen aus den richtigen Gründen auf die richtige Art zur richtigen Zeit stelle und dessen Gewissen rein sei.“ Über 2.200 Jahre später klingt der Definitionsversuch amerikanischer Wissenschaftler dann ungefähr so: Mut ist eine absichtliche Handlung, die jemand trotz Risiko für sich unternimmt, um ein lohnendes Ziel zu verfolgen. Dabei ist sich die Person ihres subjektiven Gefährdungsgefühls durchaus bewusst. Übereinstimmende Erkenntnis ist inzwischen, dass Mut sehr individuell
zu betrachten ist. Die Mutforscherin Cynthia Pury: „Um den Mut eines Menschen anzuerkennen, müssen wir seine Geschichte kennen oder seine Motivation nachvollziehen.“ Und Risikoforscher Thorsten Pachur meint, wer in einem Bereich mutig ist, muss das in anderen noch lange nicht sein. „Wer zum Beispiel finanzielle Risiken eingeht, ist nicht unbedingt mutig beim Bungee-Jumping.“ Ob Zivilcourage oder der Mut zu einerkritischen Äußerung: Mut hat viele Facetten. Dabei zeigen Forschungsergebnisse, dass impulsive Menschen eher mutbereit sind, weil sie Risiken optimistischer einschätzen. Einige Menschen scheinen von Geburt an risikoscheu zu sein, andere nicht. Ob sich das Alter auf die Risikobereitschaft auswirkt, ist umstritten. In einem sind sich die Forscher einig: Menschen können unabhängig von Alter, Geschlecht und Persönlichkeit lernen, mutiger zu werden. Der Psychologe und Pädagoge Siegbert Warwitz sagt, Mut sei eine Geisteshaltung und Charaktereigenschaft, die jeder bei sich entwickeln könne: „Sie ist notwendig, weil man sonst in seiner Persönlichkeitsentwicklung
stagniert. Mutig sein heißt, neue Wege zu beschreiten und über Grenzen, die nur scheinbar vorhanden sind, hinauszugehen.“ Zum Mut gehöre aber auch eine realistische Risikoabschätzung. „Mut ist vernünftig, wenn man das Risiko einer Handlung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu beherrschen glaubt.“ Dafür ist eine gewisse Erfahrung in der Konfrontation mit möglichen Gefahren und den eigenen Kräften nötig. Allerdings, so Warwitz, nehmen das Sicherheitsdenken und die Mutlosigkeit in der Gesellschaft zu. Das beginne schon in der Erziehung. Besser wäre es, Mut als positive Tugend zu vermitteln und zu lernen, auch nach Rückschlägen wieder aufzustehen. So wie Extremkletterer Alexander Huber, den eines Tages der Mut komplett verließ. Er fiel tief – in eine satte Lebenskrise. Die aber hat er mit einer offensiven Erkenntnis gemeistert: „Sollte es irgendwann eine zweite geben, gehe ich mit einem Vorsprung ins Rennen.“
Quellen: Alexander Huber: Die Angst dein bester Freund, 2013 / Alexander Verweyen: Mut zahlt sich aus – 12 Mutproben fürs Business, 2015 / psychologie- heute, 11/2017 / Sebastian Purps-Pardigol: Digitalisieren mit Hirn: Wie Führungskräfte ihre Mitarbeiter für den Wandel gewinnen, 2018 / Wirtschaftswoche, 11. September 2018 / DIE ZEIT Nr. 29, 2018 / Patrick Lynen: Hör auf ein totes Pferd zu reiten, 2019
Trau dich!
Die Politik tut es, die Unternehmen tun es: Mut ist auch ein Instrument des Marketing. Wie mutig aber sind die Unternehmen selbst? „Business
as usual mit dem Prädikat ‚besonders mutlos‘ – so geht es heute in vielen Unternehmen zu“, sagt Alexander Verweyen, Unternehmer, Strategieberater und Buchautor. Statt Mut grassiere Angst – vor Zurückweisung, vor Fehlern. Deshalb will er mit einer praxisorientierten Anleitung mehr Mut ins Business bringen. Sein Credo: „Trau dich! Nur wo Führungskräfte und Mitarbeiter*innen den Mut hätten, als Menschen entscheidend über sich hinauszuwachsen, kann sich ein Unternehmen auf Dauer im Wettbewerb unterscheiden.“