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Murat Günak über mutige Visionen

Er kam als 16-Jähriger mit seinen Eltern aus einem kleinen türkischen Dorf nach Deutschland, studierte an der Kasseler Hochschule für bildende Künste und ging später mit einem Stipendium von Ford an das Royal College of Art in London. Er hat bei Ford, Mercedes, und als Chefdesigner von Peugeot und Volkswagen das Image von Automarken mitgeprägt. Später war er mit der Entwicklung des ersten bezahlbaren Elektroautos mia seiner Zeit voraus. Heute will er mit ONO, einem E-Cargo-Bike, den Lieferverkehr in den Städten revolutionieren. Murat Günak zählt fraglos zu den Star-Designern unserer Zeit und wirkt dabei eher bescheiden. Gleichzeitig zieht er mit seinem Charisma Menschen sofort in seinen Bann – weil er für seine Ideen wirklich brennt. Im Interview spricht er leise und lacht viel. Wenn Murat Günak allerdings über seine Visionen spricht, dann leuchten seine Augen. Und man möchte sofort mitsegeln – Richtung schönerer Zukunft. Er ist ein Mutmacher!

Was verstehen Sie unter Mut?

» Kann man Mut moralisch bewerten? Ich glaube nicht. Man kann auch mutig seine Armee in die Schlacht führen und am Ende sterben alle. Oder ist das etwa mutig, wenn einer mit 180 nachts durch die Stadt rast? Ich finde es dagegen sehr mutig, zu sich selbst zu stehen, ohne sich zu verdrehen. Mut kann Zivilcourage sein oder wenn einer etwas zum ersten Mal probiert und über seinen Schatten springt. Einfach etwas in die Tat umsetzen kann mutig sein. Aber manchmal sollte man eher strategisch denken, um seine Visionen umzusetzen. Auch dazu gehört Mut.

Was treibt Sie als Designer an?

» Ich möchte das möglich machen, was unmöglich erscheint. Ich glaube extrem an die Kraft der Kreativität und dass man seine Ideen zum Leben erwecken kann. Wenn man leidenschaftlich daran glaubt und durchhält. Außerdem können mich Menschen anstecken, die sich so für eine Sache begeistern können, dass sie Freude und Energie versprühen. Und ich arbeite sehr gerne mit jungen Leuten zusammen und lasse mich von ihnen inspirieren. Meine größte Antriebskraft ist wohl, dass wir Designer immer auch die Macht des Faktischen haben. Wir können Visionen sichtbar machen.

Was glauben Sie: Warum waren Sie schon relativ schnell so erfolgreich?

» Ich hatte schon sehr früh das Glück, mutige Ideen umsetzen zu dürfen, und konnte mit meinen Ideen den Automarkt mitprägen.

„Als ich das erste Mal bei Mercedes war, wollte die Marke gerade ihre erste Modelloffensive starten und sich vom Luxusfahrzeug hin zum Stadtfahrzeug breiter aufstellen. In diesem Zuge konnte ich als junger Mann für damalige Verhältnisse mutige Ideen mit meiner Abteilung umsetzen. Ich hatte das Glück, dass zahlreiche Fahrzeuge, für die ich mit meinem jeweiligen Team verantwortlich war, den Markt mitgeprägt haben. Dazu zählten das CLS Coupé oder der SLK, das erste Auto mit dem Klappdach, die erste A-Klasse, der Peugeot 206, die Neuauflage des VW-Scirocco, der erste Tiguan, wie auch der Passat CC.

Aus heutiger Sicht betrachtet, haben diese Autos nicht unbedingt einen logischen Hintergrund, sie haben aber durch ihre Formgestaltung und Einzigartigkeit die Unternehmen und ihre Markenausprägung weitergebracht und den Menschen offensichtlich Freude gemacht.“

Deshalb habe ich mir wohl früh einen Namen gemacht, weil man mir zutraute, festgefahrene Designstrukturen in Konzernen zu verändern und etwas wirklich Neues in die Welt zu bringen.

© MSCG

Deshalb landeten Sie bei Volkswagen und waren dort zwischen 2004 und 2007 Chefdesigner …

» Ja, ich hatte Dr. Pischetsrieder kennengelernt, den damaligen Vorstandsvorsitzenden der Volkswagen AG. Mit ihm bin ich bis heute verbunden, weil mich besonders seine menschlichen Werte inspirieren. Als ich zu Volkswagen kam, erlebte die gesamte deutsche Automobilindustrie gerade ihre Blütezeit. Ihre Alleinstellungsmerkmale in der Welt waren geprägt durch diese unglaubliche Engineering-Leistung, durch Kraft, Qualität und Größe. Das galt in hohem Maße für Volkswagen. Da konnte ich mitwirken und habe mit großartigen Menschen sehr gute Projekte umgesetzt. Nach und nach begann ich aber, vieles zu hinterfragen. Auch mich selbst. Mich beschäftigte vor allem die Frage, ob es nicht möglich wäre, dass auf diesem Höhepunkt der Automobilindustrie ein Teil dieser gewaltigen Power aus Wissen und Kapital auch in andere Denkrichtungen fließen könnte. Meine Vorstellungen wären eher mit Produkten einhergegangen, die einfacher sind, weniger Platz einnehmen, bezahlbarer sind, andere Antriebstechnologie haben. Damals gab es aber zu wenig Raum für meine Visionen. Ich hatte die Wahl: Mache ich weiter wie bisher oder gehe ich meinen eigenen Weg?

War es nicht ziemlich gewagt, den sicheren Hafen eines erfolgreichen Konzerns gegen eine sehr ungewisse Zukunft zu tauschen?

» Es war zumindest ein sehr emotionaler Schritt. Auch weil inzwischen mein viertes Kind geboren war, beschäftigte mich die existenzielle Frage, welchen Beitrag ich für eine bessere Welt leisten könnte. Dabei wurde mir klar, dass ich eigentlich nicht so viel mehr kann, als Autos zu entwerfen und mich mit Mobilität zu beschäftigen. Allerdings wollte ich auch nicht mehr nur an dem nächsten Türgriff irgendeines Modells tüfteln. Ich wollte etwas Größeres in Bewegung setzen. Etwas, das meiner Vorstellung von Sinn entsprach.

Hat sich also Ihre Sichtweise als Designer im Laufe der Jahre verändert?

» Am Anfang war ich ungestüm und glaubte oft, alles besser zu wissen. Mit der Erfahrung kommt dann aber glücklicherweise eine gewisse Reife und Gelassenheit. Grundsätzlich sehe ich die Berufsgattung der Designer sehr kritisch, weil viele dazu beitragen, dass Ressourcen verschwendet werden. Ich selbst habe das auch getan. Wer heute ein nachhaltiges Produkt auf den Markt bringen will, hat es nicht leicht. Leider steht die Kosteneffizienz zu sehr im Vordergrund, weil man glaubt, nur so im Wettbewerb bestehen zu können. Wer sich aber nur an herkömmlichen Maßstäben orientiert, bleibt immer am Alten hängen. Wir kommen aus dieser Spirale nur heraus, wenn wir darauf setzen, dass sich in den Köpfen der Menschen etwas verändert. Denn nur sie können den Wandel letztendlich bewirken, sie müssen die nachhaltigen Produkte fordern und bezahlen. In diesem Sinn hat sich auch meine Sichtweise als Designer verändert. Unsere Produkte müssen sinnvoll sein und die Menschen wirklich weiterbringen. Und wer das will, muss dafür auch unbequeme Wege gehen und für seine Sache kämpfen.

„Ich möchte das möglich machen, was unmöglich erscheint.“

Mit dieser Haltung haben Sie sich dann auch alternativen
Mobilitätskonzepten gewidmet und waren zwischen 2010 und 2013 als Geschäftsführer der mia electric GmbH für die Entwicklung eines Elektroautos verantwortlich.

» Wir hatten ein tolles Produkt, mussten aber viel Lehrgeld zahlen. Wir waren von unserer Idee dermaßen begeistert und haben nicht wahrhaben wollen, dass der Markt für mia einfach noch nicht reif war. Ich erinnere mich an so viele Präsentationen und Vorträge, wo mir die Leute gesagt haben: ‚Sehr schön, aber die Autoindustrie meint, dass nicht die Elektromobilität die Zukunft sei, sondern der Diesel.‘ Als Start-up dagegen anzukämpfen ist nahezu unmöglich. Wer trotzdem weitermachen möchte, der braucht unglaubliches Kapital, um durchhalten zu können. Heute hätte die mia wahrscheinlich extrem gute Chancen, erfolgreich zu sein. Ich würde Unternehmen, die Ähnliches wie wir erlebt haben, gerne sagen:‚Gebt bitte nicht auf! Geht aber auch nicht mit dem Kopf durch die Wand, sondern lernt, optimiert und bleibt dran!‘

Sie sind drangeblieben. Und haben mit Ihren Partnern
Beres Seelbach und Philipp Kahle ein hochwertiges
E-Cargo-Bike entwickelt. Die Produktion des ONO hat
gerade begonnen.

» Tatsächlich könnte ONO den Lieferverkehr in Großstädten revolutionieren. Die Erfahrung, die Beres und ich mit mia gemacht haben, hat dazu geführt, dass wir unsere Vision weiterentwickelt haben. Uns war aber klar, dass ein Auto nicht die einzige Lösung sein kann. Denn unabhängig vom Antrieb benötigt ein Auto viel Platz, verursacht weiterhin Staus, kostet viel Geld. Unsere Alternative: ein E-Transport-Bike. Damit sind wir auf Investorensuche gegangen und haben mit der Beteiligungsgesellschaft IBG, einer Tochter der Wolfsburg AG, sowie Volkswagen Nutzfahrzeuge starke Unterstützer gefunden. Gemeinsam haben wir Marktforschung betrieben, die ersten Funktionsmuster in der Region gefertigt und uns schließlich auf das Segment der Online-Bestellungen und Lieferdienste konzentriert. Denn 80 Prozent der Staus zum Beispiel in Berlin, und damit verbunden Emissionen und Lärm, werden durch diese Fahrzeuge erzeugt. An dieser Schnittstelle verbessern wir die Situation für alle Beteiligten mit einem Cargo-Fahrzeug. Das ist im Prinzip ein Fahrrad, aber in seiner Dimension und mit der Tragkraft von 300 Kilo Zuladung ein wendiger Transporter. Damit wollen wir deutschlandweit und später auch weltweit auf den Markt. Wir glauben an unser Cargo-Prinzip, weil es sich für unterschiedlichste Branchen eignet und perspektivisch sogar für den Personentransport.

Wie stellen Sie sich die Zukunft von morgen vor?

» Ich stelle mir eine leise Stadt vor. Eine Stadt mit Elektroautos wäre außerdem emissionsfrei und ohne Abgase. Man könnte dann sogar an einer Hauptstraße in einem Café oder auf seinem Balkon sitzen. Wir könnten uns ganz normal unterhalten und Vögel singen hören. Wenn wir die Stadt anders denken würden, dann wären weniger Flächen versiegelt und die Natur hätte wieder mehr Raum, so dass wir im wahrsten Sinn des Wortes durchatmen können. Natürlich wird die Stadt von morgen auch digital und durch neue Mobilität geprägt sein. Transportabläufe und Fahrdienste würden effizienter funktionieren, Wartezeiten und Staus abnehmen. Wolfsburg ist eine tolle Stadt, die viele Voraussetzung hat, um diese Zukunftsvision zu erfüllen. Sie könnte mutig vorangehen.

© ONOMOTION

Das smarte Transportmobil ONO ist auch in Wolfsburg zu sehen. Die Autostadt präsentiert es in ihrer Ausstellung „Smart Logistics“. 2020 ist dort eine Erprobung für den Gepäcktransport geplant.

Glauben Sie, dass unsere Gesellschaft tatsächlich bereit
ist für einen tief greifenden Wandel?

» Der Wandel hat bereits begonnen. Stark getrieben von jungen Leuten, die sich fragen, was sie wirklich in ihrem Leben brauchen. Wir haben derzeit noch einen Overkill. Von allem viel zu viel. Gerade bei den neuen Autos zeigt sich das beispielsweise in den überbordenden Bedienungsmenüs. Ich bezweifele, dass dies wirklich die Mehrheit der Menschen glücklich macht. Das Ganze ist doch eher ein Flow, um immer up to date zu sein. Für mich steckt da ein sehr verworrenes Status-System dahinter, das uns nicht weiterbringt, sondern ausbremst. Wenn wir alle mutiger werden, wird sich dieser Wandel schneller vollziehen. Alle, die Produkte entwickeln – auch die Autoindustrie –, sollten sich auf diesen Wandel einstellen. Dabei reicht es nicht, den Verbrenner einfach durch Elektroautos zu ersetzen. Ich bin sicher, dass es einen Weg zurück zur Einfachheit geben wird. Hin zu mehr Verständigung und hin zu mehr Menschlichkeit, die in vielen Bereichen leider verloren gegangen ist. Ich wünsche mir, dass mehr Menschen den Mut haben, diese anstehenden Veränderung zuzulassen. Und sie nicht blockieren, weil sie Altes nicht aufgeben wollen und Sorge haben, sich nicht mehr in bekannter Art darstellen zu können.

Was würden Sie Wolfsburger Unternehmen gerne mitgeben?

» Wer Visionen umsetzen möchte, sollte sich immer fragen, ob diese Idee den Menschen tatsächlich etwas bringt, die Lebensqualität erhöht, der Natur hilft. Wenn das so ist, dann sollte man unbedingt dranbleiben, weiterentwickeln und sich die Freude bewahren. Das kann ein Marathon werden. Aber selbst, wenn man manchmal strategisch ans Werk gehen muss, sollte man sich treu bleiben und sich abends noch im Spiegel anschauen können. Gerade ein junges, innovativ ausgerichtetes Unternehmen sollte einerseits seinen Ideen und Idealen folgen, andererseits alles dafür tun, um sein Produkt auf dem Markt sichtbar zu machen. Damit es Menschen begeistert und sie es haben wollen.

Wenn Sie sich heute – völlig frei von allen Schranken – ein Projekt aussuchen dürften, was würden Sie dann machen?

» Was ich wirklich, wirklich gerne machen würde, wäre die nächste Generation eines ‚Volksmobils‘ zu kreieren. Das wäre zwar eine unglaubliche Herausforderung, aber ich würde sie annehmen!